
Spirit und Soul in den Klangschalen des Jahrgangs 2020 gekeltert.
Das Jahr 2020 kann sich nicht rühmen, für Kunst und Kultur besonders da gewesen zu sein. Gleichwohl haben so viele Musiker, ob allein oder mit anderen, in diesem Jahr sich ins Studio gesetzt, so dass erstaunlich viele Alben veröffentlicht wurden. Einige, die von Inspiration zeugen und die Seele durch alle Krisen schweben lassen, seien hier nun erwähnt.
JAZZ
- Web Web: Worshippers (Compost)
Dies ist das dritte Album der deutschen Jazz-Supergroup um Roberto Di Gioia. Diesmal mit am Start die Soulsängerin Joy Delanane. Da sind soulige Lieder enthalten ebenso wie die spirituellen Jazzanleihen aus den 60er/70ern. Diesen wird sich mit tiefer Inspiriertheit hingegeben, und diese Hingabe und Wertschätzung drückt sich nicht zuletzt im Albumtitel aus. Erschienen ist das Ganze auf dem Münchner compost-Label, seit Mitte der 90er Jahre die Schnittstelle zwischen dem „Homegrown“ und dem „internationalen Parkett“, vor allem aufgrund der legendären Compilation-Arbeiten „Future Sounds of Jazz“ des Labelchefs. Jazzalbum des Jahres!
- Nubya Garcia: Source (Concord)
Ein Sommergenuss auf dem oberbayerischen Alpenvorland, kristallklarer Quell der Inspiration. Als Soundtrack dazu die Nubya’s Five von Nubya Garcia, einer EP mit den ersten Veröffentlichungen der Londoner Jazzmusikerin und Tenorsaxophon-Virtuosin erster Güte. Das Debutalbum von diesem Jahr nun, passend zur Selbsterfahrungsthematik eben Source genannt, scheppert gleich ordentlich rein und trägt dich auf die vom Inspirationsquell durchflossenen Klangwiesen. Ist nicht nur reiner Jazz, der Title Track kommt als Reggae-Dancehall-Hymnus daher und lädt zum Dancen und Schwelgen ein.
- Omer Avital: Quantar: „New York Paradox“ (Jazz & People)
Das könnte der Sound sein, der Brooklyn beschreibt, ich war ja nie dort. Das für diese Aufnahme zusammengekommene Quintett setzt sich aus Freunden zusammen, die aus Israel stammen und sich in Brooklyn kennengelernt haben und dort angeblich regelmäßig zusammen abhängen: Da gibt es Mokka, Gespräche über die „Late 90s“. Ihre gemeinsame history lässt sich im leicht orientalisch angehauchten Sound heraushören, ansonsten präsentieren sie konzentriert und aufgeweckt aufgenommene Impressionen aus dem metropolitanen Künstlerleben im Big Apple.
NU JAZZ/TRIP HOP
- VARIOUS: Blue Note Re:imagined (Decca)
Nu Jazz/Contemporary Jazz-Sampler des Jahres: Zeitgenössische Jazz-Stars einer jungen britischen Musikergeneration spielen ein paar unsterbliche Klassiker aus dem legendären Blue Note-Programm. Heraus kommt ein Jazz, der nicht mehr unbedingt „klassisch“ daherkommt und sich konsequenterweise in verschiedene Stilrichtungen ausdifferenziert. So liefert diese Doppel-CD-Compilation etliche Tracks als refreshening Fundstücke in genau dem Nu Jazz und Lounge-Style, der für die Kompilation der frühen nicofiles-Sampler konstitutiv und seither richtungsangebend war.
- Kruder & Dorfmeister: 1995 (G-Stone)
Kruder und Dorfmeister um das Jahr 1995 zu hören hieß für mich zum Beispiel mit dem Walkman genießen und mit anderen Jugendlichen auf einem Südtiroler Bergbauernhof abzuchillen und „MS“ oder „Gitanes“ zu qualmen. Damals waren es hauptsächlich die Remixes, die Peter Kruder und Richard Dorfmeister für andere Musiker bzw. Stars machten, nun liefern sie 2020, völlig überraschend, die eigenen Songs nach, die seit dem in der Schublade lagen. Gemastert bei Bernie Grundman in L. A., das ist ein Studio, in dem Michael-Jackson-Alben gemastert wurden. Und so wird nochmal offenbar, wie nah vom Sound her einzigartige und wegweisende Wiener im Zusammenspiel zwischen Regionalität und Internationalität stets funktionierten, welches während der Lockdowns in 2020 auch charakteristisch und herausfordernd war. Und die Platte knistert freilich, auch wenn man sie nicht eh auf Vinyl hat.
SOUL
Drittes Album der australischen Soulsängerin Emma Donovan, zusammen mit den rhythmischen und groovigen Putbacks. Klingt nach paradiesischen alten Zeiten des Soul und lässt die davon inspirierte Seele in die Gegenwart schwingen.
Sault ist Pseudonym eines britischen Künstlerkollektivs, die recht umtriebig sind, die Öffentlichkeit meiden und ihren Alben gerne schlicht Nummern geben oder mit„Untitled“ bezeichnen. UNTITLED (Black Is) ist das Black Lives Matter Album des Jahres schlechthin. Und der gute Michael Kiwanuka taucht auch auf.
INDIE/ALTERNATIVE/LO-FI
- Sophie Hunger: Halluzinationen (Caroline)
Sophie Hungers neues, mittlerweile siebtes Studioalbum, knüpft für mich vom Herzen her und vom Ausdruck von Befindlichkeit und Seelenleben an ihre frühen Alben an, die noch (oder zumindest vom Style her) selbst daheim aufgenommen wurden. Keines ihrer Worte würde ich so wählen, und doch sprechen sie aus mir. Tatsächlich wurde Halluzinationen mit Produzent Dan Carey (Kate Tempest, Fontaines D.C.) in den Londoner Abbey Road Studios innerhalb von zwei Tagen teilweise als one take durchgespielt. Ich bin als Hörer über das Ergebnis erstaunt, denn das sind 10 Tracks auf ca. 35 Minuten, die sich so wunderbar in einem durchhören lassen, dass ich es nicht übers Herz brachte, es auf Vinyl zu kaufen.
- Khruangbin: Mordechai (Dead Oceans)
Erst Anfang Dezember begegnete mir diese Gruppe das erste Mal und sie begegnet mir seitdem immer wieder in verschiedenen Kontexten, die aber alle gemein haben, dass es Leuten sehr ernst mit guter und gefälliger Musik ist. Inspiriert von einem psychedelischen Sound, mit ein bisschen Calexico-Anleihen oder Tarantino-Referenzen, handelt es sich doch um drei Texaner. Das ist low-fi oder easy listening, aber mit Klasse, Tiefe und Seriosität!
Also wenn dieses Album einen spirituellen Weg beschreibt und es schafft, diesen Weg klanglich derart durchtrieben authentisch auszugestalten, so weiß ich nicht was mit einem passiert, wenn man am Ende eines solchen Weges zur Erleuchtung gelangt. Was für eine pure Inspiration, die der Musik der New Yorkerin Angel Deradoorian innewohnt, vom spiritual jazz eines Pharoah Sanders oder Sun Ra beseelt, in eine Art zeitlose Gegenwart verbracht und damit in eine Dimension gehoben, welche mit dem abendländischen „göttlich“ nicht mehr zureichend beschrieben werden kann. Der treibende Rhythmus erinnert an die Beats von The Notwist in den 90er Jahren, als Vorbild dient Angel angeblich die legendäre deutsche Band Can.
- Dino Brandão, Faber, Sophie Hunger: Ich liebe Dich (Two Gentlemen)
Drei Freunde, in Zeiten der Pandemie offenbar in Zürich „gestrandet“, setzen sich dort zusammen zum Lieder schreiben. Dass das geliebte Nachtleben auf der Langstraße nicht wie gewohnt stattfindet wird betrauert, und ich finde es hochinteressant, dass die drei darüber anfangen, Lieder über die Liebe zu schreiben, und jeder der drei erhält sein eigenes Liebeslied, und die jeweils anderen beiden begleiten. Wunderbar finde ich die Auseinandersetzung mit dem männlichen Selbstbild und der Außenwahrnehmung in „Mega happy“. Das Charmanteste an der Platte: die Lieder werden auf Schwizerdütsch vorgetragen und das klingt einfach toll. Diese Supergroup aus drei hochtalentierten Musikern beschenkt uns kurz vor Weihnachten mit einer ganz besonderen Platte, die dem Selbstanspruch völlig zur Genüge reicht, der „kalten“ Zeit eine Wärme und Geborgenheit entgegenzubringen. Magic!
Für die „Zeit“ sind es „tausend goldene Schallplatten in einer“, für die Band aus Melbourne ist es das dritte Album in 23 Jahren. Gegen Ende 2020 erschienen, wird hier Wert auf Qualität und Abwechslungsreichtum gelegt. Neneh Cherry, Tricky und andere Gäste machen mit auf dieser Platte, die so viel positive Vibes versprüht, dass man Corona ganz vergisst. Höret selbst und staunet!
R'N'B/SOUL/POP
- Alicia Keys: Alicia (RCA)
An Alicia Keys mag ich ja die Authentizität und eine spezielle Energie, die ich mit dem großen Talent zur Entertainerin und ehrfürchtig mit New York City und Keys‘ Geburtsort Hell’s Kitchen verbinde. Energie, die allerdings in den poppig produzierten Alben nicht immer so zum Ausdruck kommt wie bei den legendären ersten beiden Alben Anfang der 00er Jahre, sehr wohl aber bei den souligen warmen Klavierakkorden – da weiß man einfach was man an ihr hat.
- Ariana Grande: Positions (Republic)
Da ich „Ari“ bis 2019 praktisch nicht kannte, ist dies nun das zweite Album, das ich direkt mitbekomme. Dieses Mal gehe ich so gern darin auf, da es mich zum einen an ein Janet Jackson-Album von 1993 (Janet) erinnert, dessen New Jack Swing-Tunes mir auf Positions anzuklingen scheinen und welches auch ein Album über die Liebe in allen Facetten, aber eben auch der Liebe im Schlafzimmer, war. Die zweite Ingredienz für die romantische Selbstaufgabe in dieser Popmusik ist die begnadete Stimme der Sängerin mit kalabrischen Wurzeln und ihre spezielle Art, in der Stilrichtung Trap, die eigentlich nicht unbedingt mein Metier ist,zu singen, dass eigentlich eher Soul herauskommt. Pop-Hingabe pur!